Ich bin ein Multitalent.
Wenn ich das über mich selbst sage, klingt das in vielen Ohren vermutlich arrogant oder eingebildet. Was aber wenn man das als Zuschreibung ein Leben lang gehört hat, irgendwann durchaus schmerzlich eingesehen hat, ein typischer „Scanner“ zu sein und dadurch tatsächlich ziemlich viele Dinge recht gut zu können… ist es dann auch noch arrogant? Hier ist das Dilemma ganz gut beschrieben. Doch jetzt geht es mir gerade mehr darum, wie so ein einzelner Begriff auf Dich wirken kann.
Man kann „Multitalent“ auch mit „Generalist“ gleichsetzen. Klingt das im Vergleich anders? Wirkt es sympathischer?Und wie ist es mit dem Gegenteil, also einem Spezialist. Wenn er oder sie sich jahrelang einem Thema gewidmet hat, darf er oder sie das ruhig behaupten. Oder?
Wie ist es, wenn wir „Multitalent“ mal weiterdenken und davon ausgehen, dass derjenige es mit „kann vieles gut, aber nichts herausragend“ gleichsetzt. Klingt das dann noch nach Arroganz? Und wenn Ihr den Menschen kennt, schätzt, für bodenständig haltet und sogar für die vielseitigen Fähigkeiten bewundert, hat es manchmal sogar eher Ähnlichkeiten mit dem Impostor-Syndrom. Lt. Wikipedia „…ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene von massiven Selbstzweifeln hinsichtlich eigener Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge geplagt werden…“. Vieles gut aber nichts so richtig.Ich habe dieses „Du bist echt ein Multitalent“ ziemlich oft im Leben gehört, immer als anerkennendes Kompliment gemeint. Selten so empfunden. Doch irgendwann ist es angekommen. Ja, ich habe viele Talente. Ich glaube im übrigen fest daran, dass alle Menschen sehr vielfältige Talente haben – die Frage ist aber auch, wie viele davon auch tatsächlich umgesetzt, also genutzt werden. Üblicherweise ist die Konzentration auf einige wenige Themen in unserer Gesellschaft deutlich höher anerkannt als die Vielfalt und deshalb auch üblicher. Wer sich weniger getrieben fühlt, konzentriert sich eher auf wenige Themen. Deshalb habe ich es fast nie als Kompliment empfunden, sondern viel eher als Erinnerung, dass ich ja „nichts so richtig herausragend“ kann. Mich interessieren einfach viel zu viele Dinge und verknüpfe sie lieber als mich in Einzelne davon zu vertiefen. Zum Glück habe ich mittlerweile gefunden, wie das beruflich zum Vorteil werden kann.
Ein einfaches Wort, viele Sichtweisen.
Ein kleines Gedankenexperiment
- Was passiert in Deinem Kopf, wenn jemand zu Dir sagt „Du bist ein echtes Multitalent“?
- Du hörst jemanden sagen „Ich bin ein Multitalent“. Was denkst Du über die Person?
- Jemand sagt über eine gemeinsame Bekannte „sie ist wirklich ein Multitalent“?
Was ist Deine Erfahrung und Geschichte mit dem Wort? Wie gehst Du mit Komplimenten um? Warum fällt es Dir leicht oder schwer sowas über Dich zu hören? Und über andere im Vergleich. Nur ein kleines Beispiel, wieviel Deine ureigenen Gedanken bei einem kurzen, einfachen Satz Dir ziemlich viel über Dich selbst erzählen können. Was dieses Wort, die Bedeutung und Deine Erfahrung damit verändern, wie Du so einen Satz empfindest und interpretierst. Und wieviel weniger es über den Menschen sagt, der die Worte spricht, solange Du nicht auch die Hintergrundgeschichte und persönliche Definition dazu kennst.
Wenn in solchen Momenten irgendwas in Dir rebelliert, ist zum einen spannend, erstmal zu klären, wie Du das Wort definierst und inwieweit das mit der Definition Deines Gegenübers übereinstimmt. Das ist diese persönliche Geschichte zum einordnen. Erst in solchen Momenten ermöglichen wir uns wirklich gegenseitig die Perspektive zu verstehen.
Immer noch ein Bauchgrummeln übrig? Dann liegt es wahrscheinlich an der fehlenden Augenhöhe, denn„Die diametrale Haltung macht etwas zu empfundener Arroganz, nicht die Tatsache“.
Und auch das kann auf beiden Seiten passieren. Wenn mein Gegenüber sehr von sich selbst überzeugt ist, ich denjenigen persönlich eher nicht so toll finde und den Eindruck habe, er oder sie schaut auf den Rest der Welt eigentlich nur herab und dann ein „Ich bin eben ein Multitalent“ rausposaunt, dann wirkt das arrogant und vermutlich ziemlich unsympathisch.
Aber Vorsicht… wie fühle ich mich denn in dem Moment? Empfinde ich den Menschen vielleicht eher als beeindruckend und ein bisschen einschüchternd und heute ist der ganze Tag schon nicht meiner und die Selbstzweifel nagen sowieso mal wieder. Dann könnte es nämlich sein, dass Du es gerade zu der diametralen Beziehung machst, indem Du Dich klein fühlst und in Dein Gegenüber etwas projizierst, was eigentlich gar nicht da ist. Und dann gilt „im Zweifel für den Angeklagten“.Na erwischt? Macht nix. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns allen alle Varianten davon gelegentlich passieren.
Dann finde ich es allerdings extrem wertvoll, das zu reflektieren. Was sagt meine Reaktion, also meine Perspektive über mich?
Und habe ich eventuell die Chance, die andere Perspektive wirklich zu verstehen? Dann kann das eine spannende Gelegenheit sein, bei so einem empfundenen Pieks einfach mal nachzufragen „was verstehst Du eigentlich genau unter dem Begriff“.
Viel Spaß! Und erzähle mir gerne Deine Gedanken dazu.