Letztens wurde auf Twitter sinngemäß gefragt, ob wir noch das Gefühl hätten alles sagen zu können. Leider finde ich den Ursprung nicht mehr. In den momentanen Zeiten, in denen genau die, die am lautesten brüllen, behaupten nichts mehr sagen zu können, ging es dabei vermutlich im Wesentlichen um Meinungsfreiheit. Aber auch um die zunehmende Schärfe und Aggressivität in den Diskussionen in Social Media. Wenn es überhaupt noch Diskussionen sind.
Interessant zu dem Thema war übrigens auch die Talkrunde bei Markus Lanz am 30. Juni 2021 mit Giovanni di Lorenzo, Emilia Roig, Thea Dorn und Sascha Lobo. Auch da ging es um Debattenkultur, Diskriminierung und Meinungsvielfalt, in ganz unterschiedlichen Ebenen. Ein bisschen durcheinander, aber interessante Gedanken dabei. HIER anzusehen
Jedenfalls habe ich länger darüber nachgedacht… fühle ich mich wirklich frei, alles zu sagen bzw. zu schreiben was ich so möchte. Ja. Und nein. Und kommt darauf an.
Grundsätzlich JA. Ich beziehe oft genug Stellung, halte auch mit meiner kulturellen und politischen Überzeugung nicht hinter dem Berg und man bekommt ein relativ vollständiges Bild von mir, wenn man mir länger folgt. NEIN, wenn man mitbekommt, wie geschätzte Menschen mit engagiertem Handeln und klugen Analysen mit wirklich widerlichem Hass und sogar Morddrohungen konfrontiert werden. Dann denkt man schon etwas gründlicher darüber nach, wie prominent man seine Meinung zeigen muss. Oder es trotzdem oder gerade dann tun sollte?
Kommt also darauf an. Bei diesem drauf rumdenken, kam ich zu dem Schluss, dass nach den Maßstäben, die ich mir selbst gesetzt habe, wann ich auf etwas antworte, dann doch ein eindeutiges JA bei heraus kommt. Und diese Maßstäbe folgen einem bekannten Konzept, den drei Filtern bzw. drei Siebe nach Sokrates. Ich hab das Rad also nicht erfunden, sondern für mich adaptiert. Die Anekdote dazu findet Ihr tausendfach im Netz, welche davon die originale ist, vermag ich nicht zu sagen. Deshalb nähere ich mich lieber der inhaltlichen Aussage und Umsetzung. Was vielleicht ein paar wertvolle Zusatzgedanken enthält.
Seine drei Filter heißen wahr, freundlich/gut/gütig und hilfreich/nützlich/wichtig/notwendig.
Wahr. Erklärt sich eigentlich von allein. Muss ich etwas antworten, wenn ich gar nicht sicher bin, ob es stimmt? Ist es eher Hörensagen oder beruhen meine Informationen auf einer Quelle, die ich in ihrer Seriösität gar nicht beurteilen kann? Habe ich Ahnung von dem Thema? Nur weil uns eine Information in dem Kram passt, ist sie noch nicht korrekt. Auch wenn wir das dann umso lieber glauben wollen, ist gerade dann Vorsicht angesagt. Also – habe ich mich ernsthaft tiefgründig mit dem Thema beschäftigt und bin davon überzeugt, dass es wahr ist, was ich da sagen will?
Freundlich. Oder auch gut, gütig oder einfach nett. Möchte ich es aus positiver Überzeugung tun, tue ich damit etwas Gutes diese Information zu teilen? Mache ich es aus einem liebevollen Herzen heraus? Selbst wenn ich mit jemandem rede, den ich mag und vielleicht in Schutz nehmen möchte, sollte dieser Filter verhindern, dass ich böse über andere rede. Denn meist ist das Dasein, das mitfühlen soviel wichtiger als den Hass oder die Wut zu teilen. Und ja das eine geht ohne das andere. Um den Selbstwert zu erhöhen, müssen wir Niemanden anderen abwerten. Auch wenn es menschlich ist, das so zu empfinden, muss ich es zumindest nicht (mit)teilen und damit verbreiten.
Hilfreich. Hat mein Gegenüber einen Vorteil daraus, bzw. ist es wertvoll diese Information weiterzugeben? Oder auch: ist es nützlich, notwendig oder wichtig diese Info zu teilen? Kleines Beispiel – es gibt eine Verallgemeinerung, die auf Unkenntnis beruht und mich ziemlich nervt obwohl ich selbst gar nicht betroffen bin. Stichwort „Heilpraktiker für Psychotherapie“. Es kommt immer mal wieder vor, dass dieser Begriff fällt und sich darunter dann haltlose Unterstellungen, Themenverbindungen und ein buntes Potpourri von ziemlich unfreundlichen Kommentaren findet. Was schon mal gar nicht passieren würde, wenn alle den Filter wahr und freundlich nutzen würden, aber nun gut. An dem Konstrukt kann man sehr vieles kritisieren, aber genau das wird gar nicht getan. Viel eher wird da Wut entleert, auf inkompetente Schwurbler, Wissenschaftsfeindlichkeit und Homöopathie. Da wird eine Front aufgezogen, die es in der Form gar nicht gibt. Nachvollziehbar, aber nicht hilfreich.
Wäre es jetzt hilfreich, mich da einzuklinken und ein bisschen aufzuklären und zu differenzieren? Grundsätzlich schon. Wäre es wahr? Nachdem ich mich zu dem Thema mal sehr intensiv recherchiert habe und eine ganze Liste von differenzierten, fundierten Fachartikeln anführen kann, behaupte ich ja.
Mache ich es aus einer freundlichen Grundhaltung? Ja, auch das. Die Nähe des Begriffs legt die Vermischung nahe. Ich denke, dass die meisten aus negativen Erfahrungen und (Vor)Urteilen von Fachleuten, sich im Recht sehen und nur aufklären und mahnen wollen. Was ich nachvollziehen und unterstützen kann. Ich wünsche mir lediglich, eine differenziertere Debatte darüber und kann dem in aufrichtig freundlicher Haltung begegnen.
Aber ist es WIRKLICH auch hilfreich? Wenn ich mir Ort, Zeit und Situation ansehe, wäre es das keineswegs. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es kaum mal gelingen wird, auf dem Weg so ernsthaft ins Gespräch einzusteigen, um wirklich aufklären zu können und zur Differenzierung anzuregen. Also eher nicht hilfreich. Auch Hilfe braucht Angemessenheit, Schutz, Zeit und „einen Vertrag“. Da zeigt sich wieder die Transaktionsanalyse. Ich habe keinen Auftrag „zu helfen“. Auch nicht darüber aufzuklären. Und wenn jemand keine Hilfe will, ist es unnütz, wenn nicht sogar übergriffig, sie dem anderen vor die Füße zu werden.
Nicht konfliktscheu sondern konstruktiv. Ein Kompromiss.
Ich könnte sie allerdings anbieten, im Sinne von „Darf ich dazu eine andere Perspektive anregen, da ich mir etwas mehr Differenzierung wünsche, die für involvierten Gruppen hilfreich sein könnte?“. Sollte aber damit rechnen, dass sie abgelehnt wird. Und dann keinesfalls beleidigt sein, sondern mich daran erinnern, dass ich auch nicht immer Lust auf zeitintensive Diskussionen mit der „Gegenseite“ habe, sondern manchmal nur den Frust rauslassen will.
Bin ich damit konfliktscheu? Keineswegs. Aber ich investiere meine Energie in produktive Konflikte bzw. Diskurse. In Summe ergibt das ein für mich sehr stimmiges Filtersystem. Ich bin überzeugt, dass sich viele der bitterbösen Debatten oder auch Shitstorms damit verhindern lassen würden. Selbst das „gut gemeint, aber nicht gut gemacht“ würde damit einige Male verhindert. Es hilft diese Filter ruhig mal ein bisschen auf links zu drehen und zu wenden, wie man sieht. Denn nicht alles was auch den ersten Blick wahr, freundlich und/oder hilfreich ist, bleibt es auch bei genauerem hinschauen. Aber das ändert an dem wertvollen Filtersystem nichts.
Was denkst Du darüber?
Falls Du jetzt das Bedürfnis verspürst, darüber diskutieren zu wollen – egal ob über diese Filter oder Psychotherapie – fühl Dich dazu eingeladen. Vielleicht in einem meiner nächsten #virtuallunchdates?
PS: falls irgendwer an dem Bild interessiert ist, bitte melden. Ist von mir gezeichnet und als Druck verfügbar.